Agiles Arbeiten im klassischen Unternehmen – möglich oder Zeitverschwendung?

Ein Beitrag von Gerd Kullmann (MatrixPeople)

Auch in den schillernden Erfolgsgeschichten der agilen Vorreiter wird zudem meist aus Unternehmen berichtet, die ganz anders aufgestellt sind als‚ unser traditionelles KMU‘ mitten in Deutschland. Schnell gewachsene Start-ups mit jung-dynamischen Teams, unterwegs in wachstumsstarken Märkten und mit völlig neuen Geschäftsmodellen – und keine Rede ist da von einer über Jahrzehnte gewachsenen, erfolgreichen, aber bedachten Unternehmenskultur. Ist also das agile Arbeiten doch nichts für den klassischen industriellen Mittelstand? Für ein Unternehmen also, das mit seiner Art zu arbeiten, auf seine Weise Innovationen zu generieren und mit seiner ihm eigenen Organisations- und Entscheidungskultur seit langem erfolgreich auf dem Weltmarkt unterwegs ist? Oder bedarf es einer umfassenden Vorbereitung, Anpassung von Struktur und Kultur des Hauses, gar eines umfassenden Change Prozesses? Müssen die Mittelständler alles wegwerfen, was sie ausgemacht hat, um an den neuen Arbeitsmethoden teilzuhaben? Nein, keineswegs. Wie immer geht es ums Kapieren statt um das Kopieren. Natürlich predigen die Propheten der „new work“ Flexibilität und Anpassung an den Kunden über alles, aber unsere Erfahrung zeigt: Vor allem die eigenen Stärken zu stärken führt zu schnellen Erfolgen. Und langfristig die Schwächen der eigenen Kultur analysieren und mit geeigneten Maßnahmen angehen.

Wie also kann ein klassisches Unternehmen die Vorteile der neuen agilen Arbeitsformen nutzen?

Der Praxisfall eines traditionsreichen deutschen Maschinenbau-Unternehmens zeigt, wie es gehen kann: Vor der Einführung und Erprobung von agilen Teams in der Produktentwicklung machten sich die Führungskräfte mit den Grundgedanken des agilen Vorgehens vertraut und legten fest, wo im Hause der Einsatz agiler Teams anschlussfähig ist, wo ein echter Nutzen zu erwarten ist. Folgende Leitfragen haben sich dort als besonders hilfreich erwiesen:

  • Welche unserer Arbeitsweisen und Kulturelemente lassen sich zu agilen Arbeitsweisen ausbauen? Anders ausgedrückt: Wo wird bereits „agil“ gedacht und gearbeitet, ohne dass es jemand so nennt?
  • Welche unserer Leistungsträger können wir für ein agiles Team gewinnen? Wo gibt es Neugier und Offenheit für neue Formen der Zusammenarbeit, die uns in die Hände spielt?

Keine Geschäftsführung wird schließlich ihre erfolgreiche Organisation aus dem Stand komplett auf ein agiles Vorgehen umkrempeln wollen. Im zweiten Schritt gilt es daher, die Verbindungen zwischen agilen Teams und den anderen Bereichen zu klären. Denn die Nahtstellen zwischen unterschiedlichen Ausprägungen von Führung und Teamarbeit unter einem Dach wollen vernünftig beschrieben und abgestimmt sein. Alleine die Frage, wer denn bitte die Prioritäten setzt für die agilen Teams, sorgt hier regelmäßig für Kontroversen und Zündstoff. Nur mit klaren „Spielregeln“ für Team und Führungskräfte entsteht am Ende des Tages die Basis für den agilen Vorsprung: fokussiertes Arbeiten mit Transparenz, Vertrauen und Verbindlichkeit.

Klare Rollenvereinbarungen

Oft werden wir an dieser Stelle mit der Frage konfrontiert: Darf der Abteilungsleiter denn auch Product Owner sein und ist der agile Coach oder der Scrum Master nicht einfach ein Teamleiter? Wie sollen wir bei uns die neuen Rollen nennen, welche Erwartungen sind mit diesen Rollen verknüpft, mit wem werden sie wie besetzt und wie unterscheiden sie sich von der Hierarchie im Unternehmen? Die Klärung der Rollenerwartungen und der Zusammenarbeit von agilen Rollen und hierarchischen ist gerade in Unternehmen mit hybriden Organisationslösungen zentral. Natürlich kann es solche Doppelrollen geben, es wird in der Praxis gar nicht zu vermeiden sein, denn der Bestand an Führungskräften soll ja nicht verdoppelt werden. Aber der Unterschied in der Art der Führung, in der Aufgabe und Anforderung muss klar sein: Zum agilen Team hin ist die Führungskraft in den agilen Rollen vor allem Dienstleister, setzt Prioritäten, ermöglicht Selbststeuerung durch transparente Aufgaben und Kapazitäten. Zum Unternehmen hin sammelt sie Informationen, um priorisieren zu können, wirbt für die fachlichen Positionen des Teams und stellt die Strategiekompatibilität des Teams mit dem Unternehmen sicher. Bei der praktischen Umsetzung steht aus unserer Erfahrung eine Frage ganz zentral im Mittelpunkt:

Wie nutzen wir die Erfahrung und Routine unseres Unternehmens um weiter erfolgreich zu sein, und wie nutzen wir agile Arbeitsformen, um uns den neuen Anforderungen zu stellen?

Bei der praktischen Umsetzung steht dann eine Frage besonders im Mittelpunkt: Wie nutzen wir unsere Erfahrungen, unsere bewährten Routinen, um weiter erfolgreich zu sein – und wie stellen wir uns zugleich mit einer agilen, reaktionsschnellen Arbeitsweise den neuen Anforderungen? Das aber lässt sich in keinem Buch nachlesen, sondern bedarf eines gut strukturierten Einführungsprozesses mit klaren Zielen und definierten Grenzen. So lässt sich Schritt für Schritt das Spielfeld eröffnen, auf dem agile Teams ihre Tore schießen und sichtbar zum Erfolg des Unternehmens beitragen – und zwar auch ohne ganz neue Führungskultur oder den großen, grundlegenden Wandel.

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